Brasilien steht am Scheideweg

Bei der Präsidentschaftswahl im Oktober strebt Jair Bolsonaro die Wiederwahl an. Sein Herausforderer Lula da Silva hat bereits ein breites Parteienbündnis hinter sich versammelt. Wirtschaftlich ist in den kommenden Wochen vor allem wegen der Unsicherheit im Umfeld der Wahl nur mit Stillstand zu rechnen.

 

 

Dank der anhaltenden Erholung beim privaten Konsum ist die brasilianische Konjunktur mit mehr Schwung in dieses Jahr gekommen als zunächst erwartet. In den kommenden Wochen ist jedoch vor allem wegen der großen Unsicherheit im Vorfeld der anstehenden Wahlen nur mit Stillstand zu rechnen. Darüber hinaus bremsen der deutliche Kaufkraftschwund durch die erhöhte Inflation und die spürbaren Zinsanhebungen durch die Notenbank. Wirtschaftlich ist das also alles andere als ein günstiges Umfeld für den Wahlkämpfer Bolsonaro. Dieser war allerdings schon zuvor nicht nur wegen seiner desaströsen Corona-Politik in der Bevölkerung sehr umstritten. Im August und im September dürfte deshalb ein sehr hitziger Wahlkampf toben.

 

Wichtige Aufgaben der neuen Regierung sind das Ankurbeln des verhaltenen Wirtschaftswachstums und das Senken der Arbeitslosigkeit. In Anbetracht einer Verschuldungsquote des Staates in Höhe von rund 80% der Wirtschaftsleistung ist dies keine leichte Aufgabe. Durch eine unter Bolsonaro beschlossene Reform des öffentlichen Rentensystems konnten die Kostenbelastungen für die Staatskasse zwar etwas gemildert werden. Andererseits wurde zuletzt die gesetzliche Deckelung der Staatsausgaben wiederholt umgangen. Die Befürchtungen sind groß, dass die Staatsverschuldung besonders unter dem Sozialisten Lula deutlich ausgeweitet wird.

 

Ziele, die Lula in seinem Wahlprogramm nennt, sind die Stärkung der demokratischen Prozesse und die Gleichstellung der Bevölkerung bezüglich Einkommen und Bildung. Darüber hinaus will er sich als Präsident für den Ausbau von sauberer Energie und die Erhaltung eines der weltweit größten unterirdischen Süßwasservorkommen für die Allgemeinheit einsetzen. Der Polit-Profi weiß aber auch um die Bedeutung der Agrarindustrie als Arbeitgeber und will deren Interessen mit einer langfristig orientierten Umwelt- und Klimapolitik in Einklang bringen.

 

Die Kluft zwischen den beiden Hauptkandidaten der Präsidentschaftswahl verdeutlicht die Spaltung der Gesellschaft. Die Kontrollbehörden nehmen deshalb die Gefahr durch die Einflussnahme in Form von Fake-News und durch Bedrohungen von Minderheiten sehr ernst. Sollte Bolsonaro die Wahl verlieren, bestehen noch deutlich größere Befürchtungen. Da er weiterhin die Zuverlässigkeit der elektronischen Wahlurnen anzweifelt, besteht durchaus die Gefahr, dass er dann nicht nur das offizielle Ergebnis nicht anerkennt, sondern schlimmstenfalls auch mit Hilfe des Militärs das Land destabilisiert.

 

Vor diesem sehr unsicheren Umfeld ist für die Investitionstätigkeit in Brasilien eine sehr magere Zeit angebrochen und auch die Verbraucher dürften vorerst sehr verhalten agieren. Durch den robusten Schwung in der ersten Jahreshälfte dürfte für 2022 letztlich ein Wirtschaftswachstum von 1,8% zu Buche stehen. Da zusätzlich noch die schwache Weltwirtschaft die Exportdynamik belastet, wächst 2023 die brasilianische Wirtschaft wohl nur noch um rund 1%.

 

-- Dr. Christine Schäfer