Eher Bärenmarktrally als dauerhafter Aufschwung
Es ist leider noch zu früh für Freudensprünge am Aktienmarkt. Trotz der jüngsten Kurserholung dominieren zumindest kurzfristig weiterhin die Risiken.
Der Juli war für viele Aktienmärkte der beste Monat seit dem Jahr 2020, unter anderem für den S&P 500 (plus 9,2%) und für den DAX (plus 5,5%). Leider ist es aber noch zu früh, um sich zu freuen, denn es könnte sich hierbei eher um eine Bärenmarktrally handeln als um einen dauerhaften Aufwärtstrend am Aktienmarkt. Dazu gibt es mehrere Gründe: (1) Nach den vorangegangenen Jahrestiefständen im Juni und Anfang Juli kauften einige Investoren schlicht und einfach den „Dip“. (2) Die bisherige Berichtssaison für das zweite Quartal 2022 verläuft auf beiden Seiten des Atlantiks überraschend gut, der überwiegende Teil der Quartalsgewinne im S&P 500 und Stoxx 600 Europe konnte bisher positiv überraschen. Das treibt die Kurse an.
In diesem Zusammenhang erscheint die stramme Kurserholung des S&P 500 im Juli dennoch etwas irreführend, da über ein Drittel dieser Performance von nur vier Unternehmen – Apple (plus 19%), Amazon (plus 27%), Tesla (plus 32%), Microsoft (9%) – das heißt nur etwa 18% der Index-Marktkapitalisierung – verursacht wurde. Diese Unternehmen repräsentieren zwar aufgrund ihrer Größe den Blue-Chip-Index S&P 500, jedoch nicht die breite US-Unternehmenslandschaft.
Auch wenn die großen gelisteten Aktiengesellschaften in diesen Blue Chip-Indizes eine gewisse Preissetzungsmacht besitzen und steigende Inputkosten direkt an Endkunden weitergeben können, dürfte eine erwartete Verlangsamung der Konjunkturdynamik nicht spurlos an ihrer Gewinnentwicklung vorrübergehen. Daher erwarten wir weiterhin eine Zunahme der Negativrevisionen für die Gewinnschätzungen der Analysten, so wie diese auch in den Marktkursen eingepreist sind. Für den S&P 500 sind die Gewinnschätzungen der Analysten für die Jahre 2022/23 seit Juli bereits um über 1% zurückgegangen. Hervorzuheben sind hier die Branchen, die auf eine mögliche Konjunktureintrübung sensibel reagieren wie Rohstoffe, zyklischer Konsum und Industrie.
Der mögliche Gaslieferstopp für Deutschland fiel Ende Juli zwar aus – der DAX profitierte daraufhin enorm, nachdem er zuvor auch sehr stark gelitten hatte – die aktuellen Konjunkturrisiken (Krieg, Rezession, Inflation) sind jedoch immer noch ernst zu nehmen und können kurzfristig jederzeit für erneute Kursrücksetzer sowie Marktverwerfungen sorgen. Defensive Aktiensektoren und qualitativ hochwertige Wachstumstitel erscheinen in diesem Umfeld daher attraktiver als Zykliker. Unsere Indexprognosen lassen wir unverändert (DAX: 14.500 zum Jahresende). Mittelfristig sehen wir Entspannungspotenzial bei den großen Konjunkturbelastungen, vor allem weil die Stimmung immer noch sehr getrübt ist, was wiederum Möglichkeiten für positive Überraschungen bietet (siehe Entwicklung im Juli).
-- Sven Streibel