Bewertungsaufschlag von US-Aktien vs. Europäern auf Rekordniveau

KI-Euphorie und Konjunktur-Sorgen lassen regionale Aktienbewertungen auseinanderdriften. In Europa sehen wir Chancen.
 

Die Bewertungsdifferenz zwischen US-amerikanischen und europäischen Aktien ist auf ein Rekordhoch gestiegen. In Bezug auf die erwarteten Unternehmensgewinne müssen Anleger derzeit über zwei Drittel (70%) mehr für den S&P 500 bezahlen als für den Euro Stoxx 50 (gemessen anhand des Kurs-Gewinn-Verhältnisses = KGV). Zuletzt erreichte dieser Bewertungsaufschlag von US-Large Caps bzw. der Bewertungsabschlag von Europäern Ende Oktober 2022 einen Hochpunkt, kurz vor der Beendigung der chinesischen Null-Covid-Politik. Die Bewertungsspreizung reflektiert sehr genau die Investorenhaltung bezüglich der heimischen Konjunkturentwicklung in der jeweiligen Region und somit auch der regionalen Aktienmarktentwicklung. Die Bewertung in Form des KGV beurteilt die erwartete zukünftige Gewinnentwicklung des Marktes. Der Konjunkturpessimismus in Europa und in dem für Europa wichtigen chinesischen Markt ließen kaum KGV-Wachstum in diesem Jahr zu, während in den USA der KI-Boom die KGVs der Tech-Konzerne und verbesserte Konjunkturaussichten im Inland antrieben. Die diesjährigen Aktienkurssteigerungen in Europa sind somit fast ausschließlich auf realisierte Gewinne zurückzuführen, in den USA ausnahmslos auf zukünftige Gewinne.

 

Gegenüber dem DAX (rund 80% Aufschlag) ist die Bewertungsdifferenz ausgeprägter als beim breiteren Euro Stoxx 50, weil der deutsche Index keine Energiewerte enthält. Diese Unternehmen haben im Jahresverlauf trotz sinkender Öl- und Gaspreise, und daher sinkender Gewinnerwartungen je Aktie, Aktienrückkauf- und Dividendenprogramme bestätigt. Dies stützte deren Kurse und erhöhte rechnerisch deren Bewertungen trotz Konjunktursorgen.

 

Der US-Bewertungsaufschlag wurde maßgeblich vom hochgewichteten Tech-Sektor getrieben und sollte daher nicht überinterpretiert werden bei einem Vergleich der ökonomischen Stabilität der breiten Unternehmenslandschaft von Europa und den USA. Eliminiert man das Tech-Übergewicht, indem alle Aktien im S&P 500 gleichgewichtet werden, so verbleibt zwar immer noch ein historisch hoher, aber weniger erschreckender Wert (gegenüber DAX +46%; gegenüber Euro Stoxx 50 +38%). Der europäische Aktienmarkt ist stark abhängig von der Weltkonjunktur, vor allem von der Konsumfreude in den Hauptabsatzmärkten USA und China. So lässt sich auch das Muster des US-Bewertungsaufschlags interpretieren. In wirtschaftlich unsicheren Phasen am höchsten, mit Trendwenden immer dann, wenn es um die Weltkonjunktur am ärgsten stand.

 

Nun möchten wir in keiner Weise von einer Überbewertung des US-Marktes sprechen, sondern eher von einem günstigen Zeitpunkt für europäische Aktien, da sie nicht nur in absoluten Größen, sondern auch in Relation historisch günstig sind.

 

-- Sven Streibel