Die Inflation könnte noch lange erhöht bleiben
Im abgelaufenen Monat ist die Inflationsrate in Deutschland auf 10,4% angestiegen. So hoch lag sie seit der frühen D-Mark-Zeit Anfang der 50er Jahre noch nie. Nach der für die EZB relevanten europäischen Messmethode beträgt die deutsche Teuerungsrate derzeit sogar 11,6%, während sie im gesamten Euro-Raum bei 10,7% notiert.
Auch wenn die Teuerungsraten wohl nicht allzu lange im 2-stelligen Bereich bleiben werden: Nach allgemeiner Erwartung ist nicht davon auszugehen, dass die Zeit der hohen Inflationsraten so bald wieder enden wird. So gehen kürzlich vom Mannheimer ZEW befragte Finanzmarktteilnehmer mehrheitlich davon aus, dass die Inflationsrate im Euro-Raum bis zum Jahr 2024 das EZB-Inflationsziel von 2,0 Prozent deutlich übersteigen wird.
Denn auch mittel- bis längerfristig gibt es einige Faktoren, die für eine höhere Inflationsrate in Europa sprechen. Etwa die demografische Entwicklung, die zu einer Knappheit an Arbeitskräften und damit höherem Lohndruck führen dürfte, andererseits aber auch das Produktivitätswachstum belasten könnte. Der Zusammenhang zwischen der Alterung unserer Gesellschaft und der Inflation ist zuletzt von Charles Goodhart und Manoj Pradhan prominent diskutiert worden.
Dazu werden in den nächsten Jahren die Aufwendungen für die Bekämpfung des Klimawandels sowie die steigenden Kosten für das Militär als stärkere Belastungsfaktoren hinzukommen. Alles das dürfte die Erreichung des 2%-Ziels der EZB auf Sicht der kommenden Jahre deutlich erschweren.
Bliebe die EZB dann trotz eines strukturell höheren Preistrends bei ihrem Inflationsziel von 2%, müsste sie – um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren – die Geldpolitik immer weiter straffen. Nur so könnte sie die Inflationsrate wieder in ihre Zielregion drücken. Das wäre angesichts der erheblichen gesamtwirtschaftlichen Kosten aber nicht sinnvoll. Andererseits kann eine Erhöhung des Inflationsziels auf z.B. 3-4% in Zeiten höherer Teuerungsraten die Glaubwürdigkeit der Notenbank auch untergraben.
Die EZB kann hier also in ein echtes Dilemma kommen. In Zeiten des demografischen Wandels spielen auch Verteilungsgesichtspunkte eine Rolle. Während die Inflation die Ersparnisse entwertet, bedeuten höhere Zinsen tendenziell eine Umverteilung von den Jüngeren zu den Alten, die ohnehin zahlenmäßig immer mehr dominieren werden. Daneben werden die hohen Schuldenstände der Staaten für die geldpolitische Bewertung der EZB dann wohl eine noch größere Rolle spielen.
Diese schwierigen Abwägungen erfordern eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit und der Politik, die der EZB schließlich ihren Auftrag erteilt. Sie lassen sich weder mit einer einfachen These à la „Die EZB muss an ihrem Inflationsziel unter allen Umständen festhalten“ abhandeln, noch dürfen sie in einem Freibrief für eine neue Inflationsära enden.
-- Dr. Michael Holstein