Markt preist Gewinnrückgang bis über 20% ein

Die jüngsten Rücksetzer am Aktienmarkt sind eine Vorwegnahme von negativen Gewinnrevisionen. Anleger preisen nun gezielt eine Konjunktureintrübung ein.

 

Kürzlich haben wir argumentiert, dass die jüngsten Aktienmarktverwerfungen auf das nun schließlich gestartete Einpreisen einer Konjunktureintrübung bzw. der aufgeschobenen und anstehenden Gewinnrevisionen zurückzuführen ist. Da die Fundamentaldaten, sprich die veröffentlichten Gewinnschätzungen der Analysten, weiterhin stabil sind, basieren die Kursrücksetzer rein auf gestiegenen Risikoprämien der Anleger.

 

Eigenen Berechnungen zufolge suggerieren die aktuellen Aktienkurse nach der jüngsten Kurskorrektur, dass der Markt von -11% geringeren DAX-Gewinnen in 2022 ausgeht, als die derzeit veröffentlichten Analystenschätzungen unterstellen. Auf Sektorenebene in Europa liegen die eingepreisten Negativrevisionen für 2022 im unteren zweistelligen Prozentbereich. Spitzenreiter sind Öl (EU -16%, US -23%), Rohstoffe (EU -15%, US -13%), Banken (EU -11%, US -7%), Autos (EU -13%, US -9%) und die Reisebranche (EU -8%). Bei diesen zyklischen Branchen kommt die mit einer Konjunktureintrübung einhergehende Erwartung eines Nachfragerückgangs zum Tragen. Für den europäischen Chemiesektor (-16%) sieht der Markt ebenfalls Gewinnrückgänge von den aktuellen Jahresschätzungen aus. Dies erscheint plausibel vor dem Hintergrund eines drohenden Gaslieferstopps. Für den breiten S&P 500 und das Technologiesegment Nasdaq 100 preist der Markt jeweils eine Gewinnrevision in Höhe von -8% vom aktuellen Level für 2022 ein. In diesem Zusammenhang ist noch der US-Technologiesektor mit -10% hervorzuheben.

 

Diese vom Aktienmarkt erwarteten bzw. gehandelten Negativrevisionen erscheinen uns keinesfalls übertrieben, denn sie stehen im Einklang mit den Gewinnrevisionen, die im Jahr 2016 sowohl in den USA als auch in Europa beobachtet wurden. Chinesische Wachstumssorgen und ein entschiedener Brexit gefährdeten damals die Weltkonjunktur, insbesondere den exportorientierten europäischen Markt. Es ist zwar richtig, dass die Gewinnrevisionen im Jahr 2020 nach dem Corona-Crash um einiges stärker ausfielen als jetzt für 2022 vermutet wird bzw. in 2016 beobachtet wurde. Wir möchten allerdings die aktuelle Phase nicht mit dem Jahr 2020 vergleichen, weil damals die Unsicherheit sehr viel größer war.

 

Wir hatten die jüngste Marktentwicklung in einem Risikoszenario im Rahmen unserer Indexprognosen antiziert. Für den Fall einer weiteren Verschlechterung des Umfeldes hatten wir für den DAX temporär eine Talsohle von 12.500 Punkte veranschlagt, die nun erreicht wurde. Vor dem Hintergrund der vielen Ungereimtheiten, u.a. aufgrund der „Möglichkeit“ eines anstehenden Gaslieferstopps, möchten wir unsere aktuellen Indexprognosen derzeit noch nicht anpassen.

-- Sven Streibel


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