Chemiebranche bangt um Erdgas
Aktuell ist die Versorgung gesichert. Derzeit verdichten sich die Anzeichen, dass die Verschärfung der Sanktionen gegen Russland, die in dieser Woche noch beschlossen werden soll, auf Kohle abzielen und nicht auf Öl und Gas. Für den Fall von Gasknappheiten erwarten wir, dass die Verteilung mit dem Ziel erfolgen wird, dass die Wertschöpfungsketten bestmöglich erhalten bleiben.
Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich die Lage für die Chemiebranche in Europa und insbesondere an den deutschen Standorten angesichts der hohen Energie- und Rohstoffintensität angespannt. Dies gilt vor allem mit Blick auf Erdgas. Der Anteil der Chemieindustrie am gesamten deutschen Gasverbrauch zur Energiegewinnung beträgt 15,4%. Insgesamt hat das verarbeitende Gewerbe einen Anteil von 31,4% am Erdgasverbrauch zur Energiegewinnung. Erdgas wird in der Chemieindustrie aber nicht nur zur Energiegewinnung (73% des Gesamtverbrauchs), sondern auch als Rohstoff (27%) eingesetzt, was in den Anteilen nicht berücksichtigt ist. Das Substitutionspotenzial für Erdgas ist nach Angaben des BDEW (Bundesverband Energie- und Wasserwirtschaft) in der Chemiebranche mit lediglich 4% äußerst gering. Da vor allem Deutschland angesichts der hohen Abhängigkeit vom russischem Gas betroffen ist, ist die Verlagerung von Teilen der Produktion an andere Standorte denkbar. Allerdings ist zu beachten, dass dies aufgrund unterschiedlicher Produktportfolien nicht Eins zu Eins möglich ist.
Der Importanteil von russischem Gas wurde in Deutschland bereits von 55% in 2021 auf aktuell 40% gesenkt. Der BDEW sieht das Potenzial für kurzfristige Einsparungen und Substitution bei etwa einem Fünftel des deutschen Verbrauchs, also bei etwa der Hälfte der russischen Gaslieferungen. Die Bundesregierung hat im Rahmen des Notfallplans Gas die Frühwarnstufe ausgerufen – die erste von drei Warnstufen. In der dritten Stufe, der Notfallstufe, entscheidet die Bundesnetzagentur bei Engpässen, in welcher Reihenfolge die Kunden mit Gas versorgt werden. Nach §53a EnWG sind Haushalte und grundlegende soziale Dienste sog. „geschützte Kunden“, die versorgt werden müssen. Die Industrie gehört nicht dazu. Die geschützten Kunden machen etwa die Hälfte des deutschen Gasverbrauchs aus.
Grundsätzlich verfügt die Chemieindustrie über Erfahrungen mit Produktionsdrosselungen bei zyklischen Nachfrageschwankungen. Angesichts gestiegener Gaspreise wurde die Herstellung von einigen Produkten aus Wirtschaftlichkeitsgründen bereits reduziert. Ein Gas-Lieferstopp hätte jedoch eine andere Dimension. Führende Industrievertreter haben sogar vor dem Abstellen ganzer Industrieparks gewarnt, wenn die Versorgung deutlich und dauerhaft bestimmte Versorgungsmarken unterschreite. Dies hätte angesichts der Verflechtung der chemischen Industrie über die Wertschöpfungsketten immense Folgen für praktisch alle Branchen in Deutschland. Die Gasversorgung ist aktuell noch gesichert. Zudem verdichten sich die Anzeichen, dass die Verschärfung der Sanktionen gegen Russland, die in dieser Woche noch beschlossen werden soll, auf Kohle abzielen und nicht auf Öl und Gas.
Aktuell geht es über die aktuelle Situation hinaus darum, Kriterien zu entwickeln, wie Gas bei nicht ausreichender Menge verteilt werden kann. Wir erwarten, dass in einer konzertierten Aktion von Staat, Bundesnetzagentur, Versorgern und Unternehmen die Kriterien mit dem Ziel festgelegt werden, die volkswirtschaftlichen Schäden zu begrenzen, indem Wertschöpfungsketten bestmöglich erhalten werden. Dennoch wären in einem solchen Szenario Produktionsrückgänge in der Chemieindustrie wahrscheinlich, auch wenn komplette Stillstände von großen chemischen Verbundwerken möglicherweise vermieden werden können. Wie stark die Einschnitte wären, kann angesichts der bestehenden Unsicherheiten und der dynamischen Entwicklung aus heutiger Sicht nicht abschließend beurteilt werden.
-- Markus Rohleder