Rohölpreis wie entfesselt

Rohöl der Sorte Brent ist seit Jahresbeginn um 66% gestiegen. Auf der Nachfrageseite trägt weiterhin die Post-Corona Erholung. Obwohl der europäische Erdgaspreis („TTF“) auf Basis der Tagesschlusskurse seit seinem Allzeithoch um etwa 24% gefallen ist, bleibt Rohöl als fossiler Energieträger preislich gesehen weiterhin attraktiver. In Öläquivalenten ausgedrückt, liegt der Erdgaspreis nämlich aktuell bei etwa 170 USD. Die dadurch entstehende „Switch-Nachfrage“ in Höhe von 0,5 Millionen Barrel pro Tag (MMBD) erhöht derzeit die Knappheit am Ölmarkt recht deutlich. Auf Basis der Terminkurse der TTF-Futures für eine „Erdgaslieferung“ im Mai 2022 relativiert sich dieser Wert in Öläquivalenten aber erheblich und sinkt auf gut 80 USD – die „Switch-Nachfrage“ wird dann wieder deutlich nachlassen. 

 

Gleichzeitig verdichten sich die Anzeichen weiter, dass die Opec+ bei Ihrer nächsten Sitzung am 4. November bei der geplanten Erhöhung der Produktion bleibt und nicht nachbessert. Die Nachfrageentwicklung sei zu fragil, weil eine weitere Coronawelle nicht vollständig ausgeschlossen werden könne, ist aus informierten Kreisen zu hören. Allerdings hat der Rohölmarkt in den letzten Jahren oftmals die Äußerungen der Opec+ fehlinterpretiert. Unseres Erachtens ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass eine einmalige zusätzliche Erhöhung der Produktionsmenge für Dezember beschlossen werden könnte. So wäre es möglich, die erwartete Preisspitze im Winter zumindest abzumildern. Denn schon jetzt ist absehbar, dass ein Ölpreis bei einem Niveau oberhalb von 85 USD mittelfristig auch nachfrageseitige Bremsspuren impliziert. Weltwirtschaftlich sorgen gestresste Lieferketten und hohe Energiepreise mit Blick auf das Schlussquartal 2021 bereits jetzt für eine konjunkturelle Eintrübung.

 

Bei Rohöl zieht derzeit der perfekte Knappheits-Sturm auf. Vieles hiervon ist bei Preisen von rund 86 USD jedoch schon ausreichend im Preis reflektiert. Zwar ist es kurzfristig möglich, dass der Rohölpreis weiter klettert und positiv überschießt - auch weil Anleger geradezu magnetisch von der steil abfallenden Terminkurve angezogen werden. Angenommen, der Preis und die Terminkurve würden sich in den nächsten zwölf Monaten nicht verändern, könnten Anleger aktuell beim monatlichen Umschichten der Futures-Kontrakte eine jährliche Rendite von gut 18% einfahren - dem höchsten Stand seit über drei Jahren! Langfristig werden sich die Knappheitsgrade allerdings wieder abbauen, sodass der Ölpreis in 2022 tiefer tendieren wird. Ein bunter Strauß an Gründen, wie die hohe Opec-Reservekapazität, die transitorische Knappheit bei Gas und ein nachlassender Post-Corona Boom, sprechen aus fundamentaler Sicht hierfür. Als „Wildcard“ für tiefere Ölpreise könnten sich 2022 auch die zurückkommenden iranischen Öl-Barrel erweisen. In punkto Atomabkommen wird ab Mittwoch zwischen dem Iran und der EU zumindest wieder verhandelt.

 

Gabor Vogel


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