Der EU-Wiederaufbaufonds auf dem Prüfstand
Der EU-Wiederaufbaufonds (NGEU) war von Anfang an kein Selbstläufer. Bereits im vergangenen Jahr hatte es eines zähen Ringens der Staats- und Regierungschefs bedurft, bis schließlich ein gemeinsamer Kompromiss stand. Mit der Einigung ist die öffentliche Diskussion aber längst nicht verstummt. Im Gegenteil. Stand im vergangenen Jahr noch die schiere Größe von 750 Mrd. Euro im Mittelpunkt, geht es nunmehr um eine ganz grundsätzliche Fragestellung: Worin liegen die Chancen und Risiken, dass sich die EU nunmehr selber in großem Umfang verschulden kann und die Mitgliedsstaaten hierfür gesamtschuldnerisch haften?
Insbesondere dieser Haftungsaspekt hat die Kritiker in Deutschland auf den Plan gerufen und zu einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht bewogen. Sie befürchten, dass sich hieraus letztlich unbegrenzte finanzielle Risiken für den deutschen Steuerzahler ergeben und NGEU das Einfallstor in eine EU-Fiskalunion ist. Nachdem Bundestag und Bundesrat am Donnerstag beziehungsweise Freitag noch grünes Licht gegeben hatten, dass Deutschland den NGEU-Vertrag ratifizieren darf, stoppte das Bundesverfassungsgericht am selben Tag noch das Verfahren. Der Bundespräsident wurde angewiesen, das Gesetz nicht zu unterschreiben. Der Grund: Hätte Deutschland den EU-Vertrag abgesegnet, wären bereits Fakten geschaffen worden. Die Entscheidung des Gerichts über anhängige Klagen hätte unabhängig vom Ausgang des Verfahrens Deutschlands Teilnahme womöglich nicht mehr stoppen können.
Die Entscheidung vom Freitag sagt allerdings nichts darüber aus, wie das Gericht in der Sache entscheiden wird. Die Erfahrung aus den Klagen gegen die EZB-Anleihekäufe haben aber zumindest gezeigt, dass Deutschlands höchstes Gericht sehr genau darauf achtet, dass das durch das Grundgesetz verankerte Budgetrecht des Bundestages nicht verletzt wird. Sollte das Gericht tatsächlich größere Einwände haben, könnten die Folgen für Europa gewaltig sein. Das aktuelle Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit der hochverschuldeten Staaten wie Italien beruht im Wesentlichen auch auf den Krisenreaktionsmechanismen von EU und EZB. Wachsen hieran (in Teilen) Zweifel, steht zu befürchten, dass Anleger dieses Risiko einpreisen und die Refinanzierungskosten der Staaten inmitten der Krise erheblich steigen.
Unabhängig vom Ausgang der Klage dürfte jedoch jetzt schon klar sein, dass der Zeitplan für den Start des Wiederaufbaufonds ins Wanken gerät. Bislang war vereinbart, dass die Nationalstaaten ihre finalen nationalen Entwürfe für die Verwendung der Gelder bis Ende April einreichen. Aber ohne Ratifizierung kann Deutschland weder verbindliche Pläne vorlegen noch kann die EU beginnen, Gelder am Finanzmarkt aufzunehmen. Der für Ende des zweiten Quartals geplante Start des Fonds ist daher mehr als ungewiss.
Den Gegnern des Fonds steht ein keineswegs homogenes Lager der Befürworter gegenüber. Auch Deutschland ist hier gespalten. Während im liberal-konservativen Lager davon gesprochen wird, dass NGEU ein einmaliger Akt der Solidarität in Krisenzeiten ist, wächst innerhalb des politischen Lagers links der Mitte die Zustimmung dafür, mittels NGEU tatsächlich die Brücke in Richtung einer Fiskalunion zu schlagen. Noch entschlossener wirbt vor allem der neue italienische Premier Draghi für eine Fiskalunion. Beim zurückliegenden EU-Gipfel brachte er sogar die zwischenzeitlich bereits verworfene Idee der Eurobonds wieder ins Spiel. Draghis Kalkül: Italiens Schuldenberg ist durch Corona noch größer geworden und umfangreiche Sparmaßnahmen sind politisch kaum durchsetzbar. Bis dato kauft die EZB italienische Staatsanleihen in großem Umfang und stellt somit eine günstige Refinanzierung sicher. Wie geht es aber weiter, sollte die EZB einmal eine geldpolitische Kehrtwende vollziehen? Eurobonds sind eine vermeintlich einfache Lösung eines komplexen Problems, da sich Deutschland und Italien trotz wirtschaftlich ungleicher Voraussetzungen zu gleichen Konditionen refinanzieren könnten. Allerdings würde dies tatsächlich bedeuten, dass der deutsche Steuerzahler auch für Entscheidungen haftet, die nicht im Einflussbereich der deutschen Politik liegen – einschließlich aller damit verbundenen wirtschaftlichen Fehlanreize. Der Streit um den Wiederaufbaufonds ist voraussichtlich erst der Beginn einer langen und kontroversen Debatte, wieviel fiskalische Integration Europa politisch will und wirtschaftlich auch verträgt. Ausgang offen.
-- Daniel Lenz