Der EU droht bereits der nächste Grundsatzstreit

Die EU befindet sich inmitten der zweiten Welle der Corona-Pandemie. Das gesamte Ausmaß der Schäden der Krise lässt sich bislang nur erahnen. Eines zeichnet sich aber bereits jetzt ab: Die Pandemie ist nicht nur eine menschliche Tragödie, ihre wirtschaftliche Bewältigung erfordert auch einen enormen finanziellen Kraftakt – vor allem der Staaten. Für 2021 hatte die EU-Kommission deswegen die Defizitregeln außer Kraft gesetzt. Ohne Beschränkungen bei der Höhe der Mittelaufnahme und mit der EZB als größtem Nachfrager der Schuldtitel ist die Refinanzierung der Staaten derzeit sichergestellt. Die Frage ist aber, wie geht es im kommenden Jahr weiter, wenn die Pandemie hoffentlich abklingt und sich die EU voraussichtlich im wirtschaftlichen Aufschwung befindet?

In der an Dynamik gewinnenden öffentlichen Debatte scheinen sich zwei politische Lager herauszubilden. Das eine Lager fordert eine über dieses Jahr hinaus anhaltende expansive Fiskalpolitik sowohl der EU als auch der Nationalstaaten. Sehr früh hatte sich der italienische EU-Währungskommissar Gentiloni bereits positioniert und die Ansicht vertreten, dass die EU-Kommission keine Einwände gegen eine über 2021 hinaus erhöhte Neuverschuldung der Staaten erheben sollte. Einen Schritt weiter geht der neue italienische Ministerpräsident Draghi. Er hat nicht nur Steuererhöhungen zwischen den Alpen und Sizilien eine Absage erteilt, er plädiert auch für einen eigenen Eurozonenhaushalt und ein EU-Budget, das extra für den Fall von Rezessionen und Krisen gefüllt werden solle. Zwar verspricht Draghi gleichzeitig strukturelle Reformen, die das seit Jahrzehnten chronisch schwache Wachstum des Landes beleben sollen, doch die Botschaft ist klar: Anstatt Italien im Nachgang der Krise eine Sparpolitik zu verordnen, um den auf etwa 160% der Wirtschaftsleistung angewachsenen Schuldenberg abzutragen, spricht er sich für höhere sowie dauerhafte Transferzahlungen innerhalb der EU und des gemeinsamen Währungsraums aus. Hierbei dürfte der ehemalige EZB-Präsident zwei wesentliche Aspekte im Blick haben: Zum einen werden die Anleihekäufe der EZB endlich sein – vor allem wenn die Teuerungsraten mit Abklingen der Krise wieder steigen und keine ultraexpansive Geldpolitik im jetzigen Umfang mehr erfordern. Italien kann also nicht auf die dauerhafte Unterstützung der Geldpolitik setzen. Zum anderen lehnt die Mehrheit der Parteien, die Draghis Regierung im Parlament stützen, eine restriktivere Fiskalpolitik Roms ab. Es ist daher politisch nachvollziehbar, dass Rom auf die Schützenhilfe der EU hofft.

Der Vorstoß trifft jedoch auf Widerstand eines zweiten, sich inzwischen ebenfalls formierenden Lagers. Der Chef der Eurogruppe Donohoe hat zu erkennen gegeben, dass er von einer längerfristig laxen Fiskalpolitik wenig hält. Bereits im Mai könnte er die mittelfristige Finanzpolitik auf die Agenda der Eurogruppe setzen. Unterstützung dürfte der Ire vor allem von niederländischer Seite erfahren. Im kommenden Monat wird dort ein neues Parlament gewählt und die Wahlumfragen deuten darauf, dass Premier Rutte im Amt bestätigt wird. Bereits beim Thema EU-Wiederaufbaufonds hatte Rutte die Phalanx der „Sparsamen Vier“ angeführt. Es ist kaum zu erwarten, dass die Niederlande noch höheren Zahlungen an Brüssel mit dem Ziel der Umverteilung zugunsten Südeuropas zustimmen würden. Und Deutschland? Die anstehende Bundestagswahl ist auch aus europäischer Sicht durchaus von Interesse. Dabei hat man den Eindruck, dass der innereuropäische Streit auf nationaler Bühne ebenfalls eine Rolle spielen könnte. Während sich die Parteien links der Mitte sowohl eine finanziell solidarischere EU wünschen als auch die nationale Schuldenbremse infrage stellen, neigen Union und Liberale überwiegend eher zu einer ordnungspolitisch ausgerichteten Haltung. Diese lehnt höhere Transferzahlungen und dauerhafte Haushaltsdefizite ab. Allerdings zeigt der Diskussionsbeitrag von Kanzleramtsminister Braun vor einigen Tagen, dass auch innerhalb der Unionsparteien Diskussionsbedarf bei diesem Thema besteht.

Derzeit befinden wir uns erst am Beginn einer Debatte, die vor allem dann an Dynamik gewinnen könnte, wenn Spekulationen im Markt über eine Reduzierung der EZB-Anleihekäufe zunehmen sollten. Ohne ein klares Signal der Staaten, ob und wie sie ihre Neuverschuldung reduzieren werden, dürfte die Skepsis der Investoren zunehmen. Höhere Risikoaufschläge wären voraussichtlich die Folge, die auch Fragen hinsichtlich der Schuldentragfähigkeit der am stärksten verschuldeten Staaten wie Italien aufwerfen könnte. Nimmt der Druck des Marktes zu, wird die Eurozone nicht umhinkommen, Farbe zu bekennen. Entweder der Währungsraum entwickelt sich weiter in Richtung einer Fiskal- und Haftungsunion, was unweigerlich Fragen nach möglichen negativen Begleitumständen wie Moral Hazard und einer wachsenden EU-Skepsis in den Kernstaaten nach sich zöge. Oder Italien und womöglich auch anderen südeuropäischen Staaten steht eine fiskalische Rosskur bevor, die im ungünstigsten Fall an die schmerzhaften Erfahrungen der Staatenfinanzkrise erinnert.

-- Daniel Lenz


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