Brexit: Was der „Weihnachtsvertrag“ wirtschaftlich bedeutet
Vielleicht nicht in letzter Sekunde, wohl aber „fünf vor zwölf“ haben Brüssel und London an Weihnachten ihre Freihandelsgespräche mit einem Handelsvertrag erfolgreich abgeschlossen – eine Woche, bevor die Übergangsfrist ausläuft. An Heiligabend konnte Boris Johnson der britischen Bevölkerung die Brexit-Bescherung verkünden: „The deal is done“. Dass der britische Premier das Ergebnis als großen – auch persönlichen – Erfolg verkaufte, mag dabei kaum jemanden mehr überraschen. Aber ist es das auch – ein Erfolg? Wir wollen die wichtigsten Ergebnisse des Abkommens im Folgenden kurz beleuchten.
Der entscheidendste Erfolg für beide Seite ist sicherlich, dass mit dem Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt und der Zollunion erst einmal keine Zölle wiedereingeführt werden. Durchgesetzt haben sich die Briten zudem darin, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH), die oberste gerichtliche Instanz der EU, keine Rolle in der Überwachung des Vertrags oder in Streitschlichtungsverfahren spielen wird. Ebenfalls vom Tisch ist, dass Großbritannien EU-Gesetze zum Umweltschutz, zu Arbeitnehmerrechten oder staatlichen Beihilfen in Zukunft in nationales Recht übernehmen muss. Diese Forderung der EU zu einheitlichen Wettbewerbsbedingungen, dem sog. „level playing field“, war bis zuletzt einer der Hauptstreitpunkte in den Verhandlungen gewesen.
Diesen Souveränitätsgewinn muss Großbritannien aber teuer bezahlen: Weicht das Land künftig zu stark von den hohen EU-Standards ab, kann Brüssel den Wettbewerbsnachteil über Strafzölle ausgleichen. Dabei müssen die Zölle nicht zwingend in den Branchen erhoben werden, in denen eine Wettbewerbsverzerrung festgestellt wird, sondern dürfen auch andere Produkte betreffen. Deutliche Abstriche musste London auch bei den Fischereirechten machen. Jetzt werden die Fangquoten der EU-Fischer über einen mehr als fünfjährigen Zeitraum um insgesamt ein Viertel gekürzt, nicht um mehr als die Hälfte, wie zunächst verlangt. Erst danach wird es die von britischer Seite gewünschten jährlichen Verhandlungen über die Fangmengen geben. Und auch hier hat sich die EU ein Druckmittel gesichert: Werden die Quoten weiter beschnitten, darf der Verkauf britischer Meeresprodukte in der EU durch Strafzölle verteuert werden.
Während also selbst die Streichung von Zöllen in diesem Vertrag nicht in Stein gemeißelt ist, bleiben andere Handelshürden und Wirtschaftsbereiche komplett außen vor. So fordert die EU die Einhaltung ihrer Produkt- und Sicherheitsstandards. Sie müssen bei der Einfuhr der Waren in die EU an den Grenzübergängen überprüft werden, was die Grenzabwicklung erheblich verzögern und bei britischen Exportfirmen zusätzliche Kosten verursachen wird. Auch die Dienstleistungssektoren bleiben größtenteils ausgespart. Für den Finanzsektor, die wichtigste britische Exportbranche, soll es eine Äquivalenzprüfung geben, über die aber erst in den kommenden Wochen entschieden wird. Ähnliches gilt für den freien Datenaustausch, der ohne Äquivalenzregel in spätestens einem halben Jahr deutlich eingeschränkt werden könnte. Keine Zugangsbeschränkungen muss dagegen der Transportsektor, also Luftfahrtunternehmen, Fährgesellschaften oder Spediteure, befürchten.
Trotz der denkbar knappen Vorlaufzeit wird der Vertrag bereits am 1. Januar, also Ende dieser Woche, vorläufig in Kraft treten. Das EU-Parlament hat für die endgültige Ratifizierung bis Ende Februar Zeit. Dass bei einer Ablehnung durch die Parlamentarier im März erneut der No-deal Fall droht, ist dabei wohl ein eher theoretischer Aspekt. Aber auch mit dem jetzt geschlossenen Vertrag sind in den kommenden Wochen erhebliche Friktionen im britisch-europäischen Handel und negative Rückwirkungen vor allem auf die britische Wirtschaft zu befürchten. Sie werden zwar von den Corona-Belastungen, also den regionalen Lockdowns in und den Reisebeschränkungen aus Großbritannien, überlagert. Aus unserer Sicht werden sich die momentanen Rückstaus am Ärmelkanal mit den ab Neujahr deutlich strengeren Grenzkontrollen aber wesentlich langsamer auflösen als ohne den Binnenmarktaustritt der Briten. Neue Staus werden entstehen. Die ohnehin erwartete Rezession im laufenden Winterhalbjahr wird dadurch tiefer ausfallen als bislang gedacht und der anschließende Aufschwung verhaltener. Die britische Wirtschaft kann 2021 zwar wieder mit einem deutlich positiven Wachstum rechnen, es dürfte aber um mehr als einen Prozentpunkt schwächer ausfallen als ohne den Austritt.
— Monika Boven