Fiskalunion 1.0
Auf den ersten Blick mag man sich ungläubig die Augen reiben. Italien ist das mitunter am stärksten durch die Corona-Krise gebeutelte Land in Europa. Die Wirtschaftsleistung wird in diesem Jahr voraussichtlich im zweistelligen Prozentbereich sinken, während die Schuldenstandsquote geradezu sprunghaft ansteigt. Den italienischen Staatsanleihen scheint die Krise dagegen kaum zuzusetzen. Die Rendite zehnjähriger Papiere liegt bei etwa 1,5%, der Aufschlag gegenüber Bundesanleihen mit gleicher Laufzeit bei rund 180 Basispunkten. Zum Vergleich: Zum Höhepunkt des Streits zwischen der italienischen Regierung und der EU-Kommission im Herbst 2018 lag die Rendite noch bei rund 3,7% und der Spread bei etwa 320 Basispunkten. Die damals von Rom geplanten Mehrausgaben, die einen Großteil des Streits ausmachten, waren im Vergleich zu den aktuell diskutierten Fiskalprogrammen jedoch fast verschwindend gering.
Zwei wesentliche Einflussgrößen zeichnen für ein Umdenken der Anleger verantwortlich und haben die bislang geltenden Wirkungsmechanismen am Staatsanleihemarkt der Eurozone nahezu außer Kraft gesetzt: Das EZB-Anleihekaufprogramm PEPP und die sich abzeichnende europäische Fiskalunion. Mit Einführung und nun sogar der Aufstockung des PEPP auf 1.350 Mrd. Euro hat die EZB jegliche Diskussion, ob die Eurostaaten die Krisenbewältigungsprogramme auch refinanzieren können, zumindest kurzfristig im Keim erstickt. Die EZB hat nicht nur eine riesige Nachfrage geschaffen, die jegliches Angebot absorbieren kann, anders als das weiterhin bestehende Programm PSPP ist das PEPP so flexibel gestaltet, dass es keine Ankaufgrenzen für bestimmte Länder oder auch einzelne Anleihen gibt. Damit sichert die EZB nicht nur die Refinanzierungsfähigkeit der Staaten, sie hat indirekt auch die Möglichkeit geschaffen, Spreads im Rahmen eines Korridors zu steuern. Die EZB hat damit das Risiko im Euroraum zumindest für die kommenden Monate egalisiert. Für Investoren ist es aus Risikoerwägungen fast unerheblich geworden, ob man italienische Anleihen oder Bundesanleihen kauf.
Die EZB wird das PEPP nach Abklingen der Corona-Krise jedoch früher oder später beenden. Die fehlende EZB-Nachfrage würde ohne Alternativlösung mit ziemlicher Sicherheit eine neue Diskussion über Italiens Schuldentragfähigkeit auslösen und so zu einem massiven Problem für Rom und damit die gesamte Eurozone werden. Da diese Gefahr so evident ist, erhöht dies den Druck vor allem auf die Kernstaaten, ihren Widerstand gegen eine EU-Fiskalunion aufzugeben. Der neue Name der alten Idee einer Fiskalunion lautet „Wiederaufbaufonds“ und wird die europäischen Finanzen gleich in zweifacher Hinsicht verändern. Zum einen wird es einen umfangreichen Transfermechanismus innerhalb der EWU zugunsten der Peripherie geben, zum anderen kann die EU Finanzhilfen sogar kreditfinanzieren, wofür die Staaten gemeinschaftlich haften. Aus Marktsicht bedeutet dies, dass die bislang geltende Formel, dass Risikoprämien bei Staatsanleihen vor allem landesspezifische Risiken und fiskalische Kenngrößen abbilden, immer weniger Bestand hat. In letzter Konsequenz könnte dies sogar dazu führen, dass trotz erheblich variierender Schuldenstandskennziffern der Staaten größere Renditeunterschiede zwischen Staatsanleihen der Eurozone über kurz oder lang der Vergangenheit angehören. Die Logik des Marktes wird für das übergeordnete politische Ziel der Stabilität der Eurozone außer Kraft gesetzt. Den Beginn dieser Entwicklung können wir bereits jetzt beobachten.