Großbritannien geht, die Probleme bleiben
Heute Abend ist es so weit: Um Mitternacht britischer Zeit tritt Großbritannien offiziell aus der EU aus. Größere Feierlichkeiten wird es nicht geben. Viel wird sich zunächst auch nicht ändern, dies stellt die bis Ende des Jahres dauernde Übergangsphase sicher.
Unterdessen bleibt die Ausgestaltung der künftigen Handelsbeziehungen weiterhin offen und damit auch die Frage, ob dieser Brexit ein „harter Brexit“ wird oder nicht. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen (FTA) werden am 3. März 2020 beginnen, so zumindest sieht es der Zeitplan der EU vor. Die Zeit ist also knapp und man wird in den Verhandlungen auf beiden Seiten sehr taktisch agieren. In diese Kategorie sind auch die jüngsten Drohungen von Boris Johnsons Replik einzuordnen: Vor Kurzem drohte er mit hohen Zöllen auf deutsche Autos und französischen Käse. Überhaupt seien die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU nicht seine oberste Priorität; hier stünden zunächst die Verhandlungen mit den USA, aber auch mit Neuseeland an. Solche Aussagen dürfte man in den kommenden Monaten wohl noch häufiger hören.
Für die Verhandlungen eines Freihandelsabkommens setzt man normalerweise mehrere Jahre an. Der EU und Großbritannien bleiben für diese Mammutaufgabe jedoch nur wenige Monate. Bis Ende des Jahres muss ein möglicher Vertrag von allen EU-Ländern ratifiziert werden. Die Komplexität der damit verbundenen Prozesse ist nicht zu unterschätzen, ebenso wie die schiere Anzahl an Detailfragen, die damit einhergehen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass all dies in der kurzen Zeit geregelt werden kann. Doch eine Verlängerung der Übergangsphase schließt der britische Premierminister weiterhin aus.
Um diese verfahrene Situation zu lösen, sind derzeit mehrere Szenarien vorstellbar. Im besten Fall können sich die EU und Großbritannien bis zum Herbst auf ein Grundgerüst für ein Freihandelsabkommen einigen. Unter diesen Umständen sollte die britische Regierung dann auch bereit sein, einer „technischen Verlängerung“ der Übergangsfrist zuzustimmen. Diese würde die notwendige Zeit für die Klärung der Detailfragen und den Ratifizierungsprozess erlauben. Aus jetziger Sicht ist dieses Szenario sehr wahrscheinlich, da es das einzig realistische ist.
Sollten die Verhandlungen scheitern, dürfte es für Boris Johnson politisch sehr schwer werden, eine Verlängerung der Übergangsfrist, die er derzeit vehement ablehnt, zu beantragen. In diesem Fall käme es zu einem harten Schnitt mit Brüssel. Großbritannien würde in eine Rezession fallen und auch die Eurozone signifikante Einbußen verbuchen. In Reaktion könnte die britische Regierung dann eine klassische „Beggar-thy-Neighbor-Politik“ betreiben und die Steuern sowie die Sozialstandards senken, um Investitionen anzuziehen. Darauf hätte die EU keine adäquate Antwort und ein längerer wirtschaftlicher Disput dürfte sich anschließen. Dies vor Augen, steht auch die EU unter einem gewissen Druck, eine Einigung zu erzielen.