„Den Strukturwandel meistern“ – oder: wie gute Ideen wieder einmal zu verpuffen drohen
Das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrates für Wirtschaft (SVR) wurde heute an die Bundesregierung übergeben. Ein alljährliches Ritual, einschließlich Anwesenheit der Kanzlerin. Das Gutachten 2019/20 trägt den Titel „Den Strukturwandel meistern“ und umfasst mehr als 350 Seiten. Es geht darin unter anderem um die konjunkturellen Aussichten und um Empfehlungen in aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen.
Diese Kapitel bieten für öffentliche Diskussion in der Regel das am leichtesten zugängliche Futter. So auch dieses Mal. Gibt es eine Rezession? Viele Kommentatoren dachten in den letzten Wochen ja, der Rat sagt: Nein. Und: Wie hältst Du es mit der schwarzen Null und der Schuldenbremse? Der SVR ist mehrheitlich dafür, doch nicht alle Mitglieder stimmen zu.
Sicherlich ist es vor allem für die Medien interessant, wenn man inhaltliche Positionen mit Personen identifizieren kann. Und in diesem Fall besonders: Dass sich Frau Prof. Schnabel, die deutsche Kandidatin für einen Sitz im EZB-Direktorium, in dieser international umstrittenen Frage von der Mehrheit ihrer Kollegen abgrenzt und eine Änderung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse fordert, gibt Anlass für Diskussionen.
Leider gehört es auch zur Routine, dass die weniger leicht zugänglichen Kapitel des Gutachtens, die sich mit dem strukturellen Reformbedarf in Deutschland befassen, relativ schnell in Vergessenheit geraten. Dieses Mal geht es hier um so wichtige Themen wie das im Trend nachlassende Produktivitätswachstum vor dem Hintergrund der demografischen Alterung, um Möglichkeiten und Grenzen der Industriepolitik, um die großen Herausforderungen, denen sich die deutschen Banken in einem sehr schwierigen Umfeld stellen müssen und um die Entwicklung der Ungleichheit von Vermögen und Einkommen und die Implikationen unter anderem für die Sozialsysteme.
Diese Themen sind nicht leicht verdaulich und nicht erschöpfend in einem kurzen Presseartikel oder Blogbeitrag zu behandeln. Sie erfordern eine intensive, sicherlich auch kontroverse Diskussion wichtiger wirtschafts- und sozialpolitischer Fragen. Doch sie sind für die langfristige Aufstellung des Wirtschaftsstandorts Deutschland absolut zentral und müssen angegangen werden.
Daher ist auch die Diskussion zu begrüßen, wie dem Sachverständigenrat ein größerer Einfluss zumindest auf die wirtschaftspolitische Diskussion eingeräumt werden kann. Denn von Ausnahmen abgesehen (das Gutachten 2002/03 "Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum" hatte nach allgemeiner Einschätzung großen Einfluss auf die „Hartz-Reformen der Regierung Schröder) haben die SVR-Gutachten auf die Diskussionen im politischen Berlin und das praktische Regierungshandeln leider einen sehr überschaubaren Effekt. Das ist nicht nur schade, sondern im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsmodells eigentlich auch unverzeihlich.