Das Brexit „White Paper“: Eine Sackgasse

Das lang erwartete Brexit „White Paper“ wurde am gestrigen Nachmittag veröffentlicht und in der anschließenden Parlamentsdebatte prompt in der Luft zerrissen. Der Regierung ist es weder gelungen, die Brexit-Hardliner zufriedenzustellen, noch die Befürworter eines „soft Brexits“ für ihren Vorschlag zu gewinnen. Aus Sicht der Hardliner ist der Deal zu „soft“, aus Sicht der Remainer ist er zu „hart“. Nachdem es am Anfang der Woche noch Hoffnung gab, dass der Rücktritt der Brexit-Hardliner Davis und Johnson sowie der neue Vorstoß der Regierung endlich die langersehnte Einigung innerhalb der britischen Regierung herbeiführen könnte, ist von Einigkeit heute nichts mehr zu spüren. Die EU hat sich bislang nicht zu dem Vorschlag der Regierung geäußert, wir vermuten jedoch, dass auch sie viele (kritische) Fragen haben wird. Zwar ist der grundsätzliche Ansatz der Regierung, zumindest so wie er vergangenen Freitag in Chequers angedeutet wurde, aus unserer Sicht nicht verkehrt. So wie er nun umgesetzt wurde, dürfte er allerdings nur geringe Erfolgschancen haben. Der Plan sieht vor, dass Großbritannien und die EU ein sogenanntes „Facilitated Customs Arrangement (FCA)“ – eine Freihandelszone für Güter, in dem jegliche Zölle zwischen Großbritannien und der EU wegfallen - schließen. Um zu gewährleisten, dass der Warenhandel ohne Grenzkontrollen vonstattengehen kann, verspricht die Regierung, sich den Produktstandards der EU zu unterwerfen (beansprucht aber gleichzeitig ein Mitspracherecht in den EU Agenturen, die für streng regulierte Produktsegmente verantwortlich sind). Zölle auf Waren die über Großbritannien in die EU eingeführt werden, müssten von Großbritannien eingenommen und an die EU weitergegeben werden. Für den Dienstleistungs- und Finanzsektor wünscht sich die britische Regierung gesonderte Abkommen, akzeptiert aber, dass diese den Status Quo nicht voll ersetzen werden. Im britischen Unterhaus spielten sich während der gestrigen Debatte chaotische Szenen ab. Der neue Brexit-Minister, Dominic Raab, hatte gerade das Wort ergriffen, als sich herausstellte, dass die anwesenden Parlamentarier keine Kopien des White Papers erhalten hatten. Dies, so konnten es sich viele MPs später nicht verkneifen zu bemerken, sei symptomatisch für die chaotische Brexit-Politik der Regierung. Und die Situation beruhigte sich nur unwesentlich, als es dann endlich zur Debatte kam. Von den Hardlinern um Jacob Rees-Mogg kam die zu erwartete Gegenwehr. Damit dürften May und Raab jedoch gerechnet haben und stattdessen auf die Unterstützung der vielen Befürworter eines „soft Brexits“ gesetzt haben. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass der neue Vorstoß der Regierung weder die Brexit-Hardliner noch die Befürworter eines „soft Brexits“ zufriedenstellt. Den Hardlinern stößt vor allem das Versprechen, sich weiterhin an die Produktstandards der EU zu halten, sauer auf. Auch die vagen Formulierungen im Bereich Immigration finden bei ihnen keine Zustimmung. Gleichzeitig ist der Deal aus Sicht der „soft Brexit“ Befürworter nicht „soft“ genug. Außerdem befürchten sie, dass die EU dem Vorschlag nicht zustimmen wird, was im schlimmsten Fall in einem „no deal“ Brexit resultieren könnte. Was die EU betrifft, werden wir zumindest von offizieller Seite wohl erst nächste Woche eine Reaktion bekommen. Allerdings könnte sich hier schnell die Meinung verfestigen, dass die Briten versuchen, sich die Rosinen aus dem EU-Kuchen heraus zu picken. Und der Vorwurf wäre nicht gänzlich unberechtigt. Tatsächlich kommt man beim Studium des White Papers nicht um den Verdacht herum, dass Theresa May erneut die Quadratur des Kreises versucht und erneut scheitert. Lehnt die EU den Vorschlag May’s ab und/oder verweigert das britische Unterhaus seine Zustimmung (beides ist durchaus wahrscheinlich), stehen die Briten wieder am Anfang. Auch nach zwei Jahren der Verhandlungen und Streitigkeiten wäre erneut vollkommen unklar, wie es nun weitergehen soll. Ganz zu schweigen davon, dass die innenpolitische Lage verzweifelter ist als je zuvor. Die Konservative Partei bleibt tief gespalten, die Premierministerin befindet sich in einer kaum haltbaren Situation, die Opposition wirbt für Neuwahlen, auf die sich die Konservativen aber nicht einlassen werden, während der Unmut in der Bevölkerung wächst. Selbst ein Rücktritt Mays würde kaum zur Entspannung der Lage beitragen. Wird sie durch einen moderaten Brexiteer ersetzt, ändert sich nichts. Wählt man einen Brexit-Hardliner hätte man immer noch die Mehrheit des Parlaments gegen sich. Gewonnen hätte damit niemand.


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